Blindsight

Schon wieder war ich im Kino, ganz spontan, nach einer kurzfristigen Absage zum Abendessen. Das Wetter war bescheiden und lange habe ich mit meinem inneren Schweinehund gekämpft, bin aber dann doch noch aufgebrochen zu Blindsight. Gott sei Dank.

Dass das versammelte Publikum eines Films mit der exakt gleichen Gefühlslage aus dem Kino kommt, ist extrem selten – ich kann mich nur an drei Anlässe erinnern. Schindlers Liste hat das mit einer Horde Acht- bis Zehntklässler geschafft, damals in den Neunzigern – die kamen vollkommen geräuschlos aus einem Ahrweiler Kinosaal. Dann war es Independence Day in einem Theater in Dedham bei Boston, wo außer mir konsterniertem Europäer alle anderen am Ende des Films aufstanden und in Begeisterungsschreie und hysterisches Klatschen ausbrachen; das Anstimmen der Nationalhymne konnte gerade noch verhindert werden. Zuletzt bei Persepolis im Sommer – einfach die totale und vielschichtige Begeisterung. Und dann heute wieder: Applaus im Rex, wenn auch keine stehenden Ovationen. Sicher, der Abspann an sich, über den ich nichts verraten werde, hat seinen Teil dazu beigetragen, aber sicher auch für den Film – der es immerhin schaffte, die Zuschauer nach Filmende in ungewohnt großem Maß noch vor der Leinwand zu bannen.

Sabriye Tenberken hat in Tibet mit der Organisation Braille without Borders eine Blindenschule aufgebaut, ein Internat. Das ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, besonders aber vor dem mir bis dahin unbekannten Hintergrund, dass Blindheit in Tibet als göttliche Strafe gilt. Die Kinder gehen davon aus, dass sie in einem vorherigen Leben etwas furchtbares gemacht haben müssen, sonst wären sie nicht blind wiedergeboren worden. „Aber umgebracht habe ich wahrscheinlich niemanden, immerhin bin ich als Mensch wiedergeboren worden,“ sagt einer. Oder sie sind von einem Dämon besessen. Wie genau Kyila, eine der blinden Schülerinnen, ihre Blindheit zusammen mit der ihrer beiden Zwillingsbrüder und ihres Vaters erklärt, wird nicht ganz klar. Dafür aber der frühe Tod ihrer Mutter, „die hatte es am Herzen. Sie musste sich zu viel um alle sorgen.“

Die erste Szene kann einem schon das Herz in die Hose rutschen lassen. Die Leinwand bleibt schwarz und man hört nur das Gespräch zwischen zwei Männern, so ungefähr: „Du musst jetzt über diese improvisierte Brücke drüber, ganz langsam.“ – „Okay, alles klar… langsam.“ Dann kommt das Bild dazu – die Brücke ist eine Konstruktion aus drei aneinandergebundenen Alu-Leitern, über eine Gletscherspalte, sicher 15 Meter tief. Und da geht einer drüber, inching forward, wie es auf Englisch so schön heißt, es wackelt, er bleibt hängen, Eis bricht ab und stürzt in die Tiefe – es ist Erik Weihenmayer, der 2001 als erster Blinder den Mount Everest bestiegen hat. Sein Leben war Thema an der Blindenschule in Lhasa und Sabriye Tenberken hat ihn angeschrieben und ihm von der Schule berichtet und welchen Einfluss seine Errungenschaft auf ihre Schüler hatte. Etwas kurz gefasst entwickelt sich daraus das Projekt, mit einer Gruppe ausgesuchter Schüler einen 7.000er zu besteigen – den Lakhpa Ri in Tibet, direkt neben dem Everest. Es scheint der totale Wahnwitz, aber das Projekt nimmt seinen Lauf, die Dokumentation immer wieder unterbrochen bzw. ergänzt durch Interviews mit den Schülern und auch ihren Familien. Die Landschaftsaufnahmen sind atemberaubend; zu einem großen Teil (bis zum „ABC“, dem Advanced Base Camp) wird die Route zum Gipfel des Mount Everest benutzt. Es machte mir Lust, mal zum Base Camp zu reisen – auf über 5.000 Meter. Von da sieht man den Everest und findet ihn, zumindest im Film, an sich nicht besonders eindrucksvoll… man sieht halt nicht die kompletten 8.848m einfach als Inselberg aus der Ebene ragen und spürt nicht den Sauerstoffmangel, der einen alle 5 Schritte anhalten und nach Luft ringen lässt. Aber trotzdem fantastisch.

Die Organisation Braille without Borders war mir bis dato auch unbekannt – obwohl sie in Swisttal ansässig ist und Sabriye Tenberken u.a. 2005 für den Friedensnobelpreis nominiert war. Sie hat zwei Bücher veröffentlicht, die ich mir als lesenwert vorstellen könnte: Mein Weg führt nach Tibet. Die blinden Kinder von Lhasa und Das siebte Jahr. Von Tibet nach Indien – die in Lhasa begonnene und weitergeführte Arbeit wird nun auch in Kerala aufgenommen. Der Film hat auf diversen hochkarätigen Festivals den Publikumspreis gewonnen, bspw. auf der Berlinale 2007 und in Cannes 2007. Wer ihn gesehen hat, weiß warum. Chancen nutzen – er lief schon in der vierten Woche im Rex…